Unser Verständnis vom Umgang mit Heterogenität in den Workshops der AVM
Wir verstehen unter Heterogenität die sozial konstruierte Verschiedenheit von Menschen in einer Gesellschaft. Die Unterschiede werden in der Regel hierarchisch gedacht: „Reichtum ist besser als Armut, kognitive Leistung ist besser als emotionale Fähigkeiten, Arzt zu sein ist besser als Pflegekraft zu sein.“ Davon versuchen wir uns frei zu machen, wie der folgende Einblick in unsere inklusive Arbeitspraxis der Workshops zeigt.
Workshopbeginn der AVM Berufsorientierung zum Thema „Arbeitswelt von Morgen“. Die Jugendlichen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln von ihrer Gesamtschule aus angereist sind, werden um kurz vor 10:00 Uhr von unserem Coach am Eingang der Fachhochschule des Mittelstandes in Hannover-List abgeholt. Die Schüler*innen des 9. Jahrganges treffen im Unterrichtsraum ein. Der Raum ist groß, lichtdurchflutet, an den Arbeitsplätzen stehen aufgeklappte Laptops, die Lernumgebung ist vorbereitet. Aufmerksam und vorsichtig suchen sich die Jugendlichen in der ungewohnten Umgebung der Fachhochschule einen Sitzplatz. Nach der kurzen Begrüßung durch den Coach beginnt die Vorstellungsrunde. Die beiden Teamer*innen stellen sich kurz vor und sagen einige Sätze dazu, was sie über die Arbeitswelt denken. An dieser Modellhandlung können sich die Jugendlichen orientieren. Sie gehen nach vorne, nehmen ihr Namensschild von der Pinnwand und sagen einige Sätze zu ihren Erwartungen und Ängsten bezogen auf die Lebensphase „Eintritt in die Arbeitswelt“.
Karl brummelt seinen Namen
Als nächstes ist Karl dran. Mit hängenden Schultern trottet er langsam nach vorne. Da steht er dann, – schweigend. Es ist ruhig im Raum abwartende Stille, nichts passiert. „Sag doch mal, wie du heißt“, ermuntert ihn eine Mitschülerin. Karl brummelt seinen Namen. – Pause- Ein Mitschüler geht nach vorne zu ihm, nimmt Karls Namensschild von der Pinwand und klebt es ihm an die Brust. Der Mitschüler setzt sich wieder, Karl steht schweigend vor der Gruppe. Wieder Stille. Die Sonderpädagogin, die in der hinteren Reihe sitzt, fragt ihn: „Karl, was möchtest du mal werden, wenn du nicht mehr in die Schule gehst?“ Ein Strahlen geht über sein Gesicht: „Feuerwehrmann“ sagt er, das Eis scheint gebrochen, er geht zurück zu seinem Platz.
Voneinander lernen
Die erste Übung am Laptop beginnt. Die Jugendlichen sollen ein Worddokument auf dem Laptop erstellen und aufschreiben, warum sie an diesem Workshop teilnehmen. Die Sonderpädagogin geht im Raum umher und verschafft sich einen Überblick darüber, wie die Jugendlichen mit dieser ersten Aufgabe zurecht kommen. Karl wirkt motiviert, er schaut zu seiner Sitznachbarin und versucht es ihr gleich zu tun. Die Sonderpädagogin spricht die Nachbarin von Karl an und fragt: „Ist es für dich okay, wenn du Karl bei dieser Aufgabe unterstützt?“ Sie bejaht und nimmt diesen Auftrag, wie die nächste Arbeitsphase zeigt, zurückhaltend und engagiert wahr. Diese kurze Sequenz soll ein für uns wichtiges Prinzip im Umgang mit Heterogenität verdeutlichen. Dieses Prinzip lautet: Voneinander lernen.
Für uns als Teamer ist jede Gruppe neu. Wir lernen die Jugendlichen erst am Tag des Workshops kennen, aber wir vertrauen auf die Kraft, die von ihnen ausgeht. Wir beobachten sie im Umgang miteinander, sie verbringen viel Lebenszeit zusammen und kennen sich gut. Darin sehen wir eine Ressource, die wir in unserem Workshop methodisch nutzen. An Stationen zur Arbeitswelt in der Steinzeit, in der Agrargesellschaft und in der industriellen Revolution arbeiten die Jugendlichen in heterogenen Gruppen zusammen. Hier stehen Methoden des Peerlearnings im Mittelpunkt [1, S. 72-76]. Ohne Angst verschieden sein zu können, sich gegenseitig zu helfen und dabei gemeinsam zu lernen, das ist für uns ein wichtiger Grundsatz.
Verschiedenheit der Köpfe – Karl geht seinen Weg
Johann Friedrich Herbart (1776 – 1841), der deutsche Philosoph, Pädagoge und Psychologe spricht in seinen Schriften von der Verschiedenheit der Köpfe[3, S. 453]. Damit formuliert er eine heute noch gültige lernpsychologische Grundannahme. Sie basiert darauf, dass jeder Mensch verschiedene Fähigkeiten, Interessen, Motivationen, Lerntempi, Leistungsvermögen, Lerngeschichten, soziale Fähigkeiten, Aufnahmefähigkeit und Konzentrationsfähigkeit in den Lernprozess einbringt. Genau deshalb erhält Karl während unseres Workshops individuelle Angebote, die auf seine Fähigkeiten abgestimmt sind. Wenn er sich nicht mehr an seinem Platz in der Großgruppe konzentrieren kann, erkundet er mit einem Arbeitsauftrag das Gebäude und bekommt die Möglichkeit zur Bewegung, die er dringend braucht. Er holt in der Verwaltung der Fachhochschule Arbeitsmaterial ab für die gesamte Gruppe. Dabei übt er vor Eintritt in den Raum der Verwaltung anzuklopfen, sich vorzustellen und seine Wünsche angemessen sprachlich zu formulieren. Die Mitschüler*innen von Karl präsentieren am Ende des Tages ihren Berufswunsch mit den notwendigen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen für ihren ausgewählten Beruf an Hand eines Plakates. Karl tritt – nun viel selbstbewusster als am Anfang des Tages – mit seinem Bild eines Feuerwehrautos vor die Gruppe. Er erzählt, was ein Feuerwehrmann machen muss, wenn ein Haus brennt.
Jeder hat von irgendetwas zu viel oder zu wenig
„Jeder hat von irgendetwas zu viel oder zu wenig. Niemand ist völlig „normal“ und das ist „normal“!“ Dieses Zitat von Frank Müller, einem Professor für Sonderpädagogik an der Universität Bremen, gefällt uns. Wir sind der Meinung, dass das deutsche Schulsystem versucht das Ausmaß der Verschiedenheit der Köpfe zu ignorieren. Eine Selektion von Kindern bereits nach vier Schuljahren in die verschiedenen Schulformen Gymnasium, Haupt- und Realschule ist viel zu früh und im europäischen Vergleich nicht mehr haltbar. Durch diese frühe Selektion im Schulsystem werden wichtige Möglichkeiten des milieu- und kulturspezifischen Lernens voneinander gesellschaftlich unterbunden. In unseren Workshops beobachten wir, dass Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern sehr kritisch mit sich selbst sind. Sie trauen sich wenig zu, können ihre Kompetenzen kaum sehen und bewerten ihre Fähigkeiten schlecht. Von einem Jugendlichen wie Karl können sie lernen mit dem Herzen zu hören. Er ist mit Emotionalität bei sich selbst, ist begeistert von der Vorstellung in Zukunft ein Feuerwehrmann zu sein. Manche haben zu viel intellektuellen Weitblick und zu wenig Nähe zu ihren eigenen Fähigkeiten. Und was ist schon normal, bezogen auf die Herausforderungen einer Arbeitswelt von morgen mit ihrem exponentiellen Wachstum?
Quellen
[1]: Krämer-Kilic, I. (1993/94): Voneinander lernen -Methodenarrangements zum Peerlearning. In: Lernchancen 93/94, Seite 72 – 76.
[2]: Frank, M. (2018): Praxisbuch Differenzierung und Heterogenität. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
[3]: Johann-Friedrich, H. (1808): Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. (Hrsg. von Holstein, H.; Bochum: Kamp).